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Lokale Kämpfe, globale Solidarität: Ein Interview mit Svetlana Solntseva, feministische, queere, politische Aktivistin aus der Russischen Föderation



Svetlana, wir haben dich durch ein internationales Netzwerk von politischen, queeren Aktivist*innen kennengelernt. Beschreibe bitte, wo du dich gerade aufhältst und wie deine Lage ist.


Gerade lebe ich seit nunmehr zwei Jahren in Armenien. Armenien ist ein sonniges Land. In Armenien können viele Menschen Russisch, und das hilft sehr, wenn man zum Beispiel zur Ärztin muss oder sogar bei der Jobsuche. Allerdings muss ich auch sagen, dass nach meiner politisch erzwungenen Ausreise aus Russland meine Lebensqualität stark gesunken ist. Durch die Ankunft von vielen Geflüchteten aus der Republik Arzach (bis 2017: Republik Bergkarabach) sowie vieler „Relocant*innen“ aus Russland (ein recht neuer Terminus, der diejenigen Menschen beschreibt, die die Russische Föderation nach dem Beginn des offenen Angriffskrieges der RF auf die Ukraine verlassen haben) ist in Armenien der Mietmarkt explodiert. Die Mietkosten sind etwa so hoch wie die in der EU, die Löhne jedoch sind extrem niedrig. Als russische Staatsbürgerin habe ich keinen Zugang zu staatlicher medizinischer Versorgung und muss Arztbesuche selbst bezahlen. Da ich eine Reihe mentaler und physischer Erkrankungen aufweise, erschwert dies mein Leben signifikant.

In Armenien habe ich sowohl polizeilichen Druck als auch sexualisierte Übergriffe vonseiten eines Polizisten erleben müssen. Ich hatte Probleme mit meinem Vermieter, und ich war zur Polizei gegangen, um illegitime Verstöße dieses Vermieters zu melden. Doch bei der Polizei half man mir nicht, sondern der Polizist wollte mich zu Sex bewegen, bot an, mit ihm in eine Beziehung zu treten, bot an, mir „mit meiner Wohnung zu helfen“. Seine ganzen Äußerungen habe ich per Audio aufgezeichnet, und als er dies sah, wollte er mich zwingen, diese Aufzeichnungen zu löschen, er holte zwei weitere Polizisten und auch sie wollten mich zwingen, dies zu tun. Eine Stunde lang war ich großem Druck und psychischer Gewalt ausgesetzt, dann ließen sie mich gehen. Die Aufzeichnungen habe ich nicht gelöscht, ich habe sie immer noch.

Ich fühlte mich furchtbar und verstand einmal mehr, dass Migrant*innen und besonders Frauen sich in einer sehr vulnerablen Situation befinden.



Wie würdest du die aktuelle Situation in Armenien beschreiben – allgemein politisch, aber auch für dich als feministische Aktivista aus der Russischen Föderation?


Armenien hat vor kurzem einen Krieg um die Republik Arzach (ehemals Bergkarabach) durchgemacht. Im Herbst 2023 hat Armenien über 100 000 Geflüchtete aus der Republik Arzach aufgenommen, als Folge des Einmarschs Aserbaidschans. Tausende Menschen sind gestorben, viele haben ihre Häuser und ihre Nächsten verloren. Armenien ist ökonomisch stark von Russland abhängig, dies erlegt Armenien eine gewisse Loyalität mit dem Regime der Russischen Föderation auf. Und dies, obwohl in den vergangenen Jahren die armenische Staatsführung eher kritisch der russischen Staatsführung gegenübersteht, da diese sie nicht ausreichend in ihrem Kampf um die Republik Arzach unterstützt hätte. Trotzdem werden in Armenien russische Aktivist*innen festgenommen, die sich vor dem Regime Putins verstecken. Im Juli 2024 wurde die Schullehrerin Natalia Taranuschenko als russische Staatsbürgerin in Armenien festgehalten. In Russland wurde ein Verfahren gegen sie eingeleitet wegen angeblichen „Fakes über die Armee“ (ein Gesetz, das im März 2022 von der russischen Justiz beschlossen wurde und kritische Berichterstattung über den und Haltungen zum Krieg gegen die Ukraine de facto unter Strafe stellt), im Moment befindet sie sich in Armenien ohne Ausreiseerlaubnis. Genauso werden in Armenien auch andere Antikriegs-Aktivist*innen und Deserteure aus der russischen Armee festgehalten. Diese Festnahmen und Schikanen lassen mich und andere in meiner Lage äußerst verwundbar in diesem Land hier fühlen.

Allerdings gibt es in Armenien feministischen Aktivismus. Im Zentrum der Stadt Jerewan existiert schon seit fünf Jahren eine feministische Bibliothek. Außerdem gibt es in Armenien Stiftungen, die LGBTQ+-Personen helfen: New Generation und Pink Armenia etwa. Das Vorhandensein solcher Initiativen erlaubt es, sich ein klein wenig geschützter zu fühlen, da man sich an sie wenden kann im Fall der Fälle.

Aber Armenien bleibt ein patriarchales Land, und ich persönlich habe oft mit übergriffigen Situationen auf der Straße zu tun, besonders bei Nacht.


Was ist momentan das Wichtigste für alle Queers on the Move?


Na, das Allerwichtigste ist natürlich die physische Sicherheit, also die Abwesenheit von Gewalt und Homo- und Transphobie. In einigen Ländern, auch in Armenien, ist Homophobie sehr weit verbreitet. Hier gibt es keine Gesetze, die LGBTQ+-Personen schützen. Jedoch muss man hinzufügen: Es gibt in Armenien immerhin auch keine Gesetze, die LGBTQ+ „verbieten“ würden, im Gegensatz zu Russland, wo bereits die schiere Zugehörigkeit zu LGBTQ+ als Extremismus gewertet und mit Jahren im Gefängnis geahndet wird (die Justiz der RF hat im November 2023 ein Gesetz erlassen, demzufolge die internationale LGBTQ+-Bewegung „extremistisch“ sei).

Und es sind ebenso selbstverständlich die ökonomische Sicherheit der queeren Nomad*innen, also Wohnen, Essen, Medizin. Denn oft scheitert es schon daran, einen Job zu finden im neuen Land, dort anzukommen, einen legalen Aufenthaltsstatus zu erlangen, das Recht auf Arbeit. Queers haben es darüber hinaus aufgrund von Geschlechteridentität und sexueller Orientierung mit Einschränkungen ihrer Rechte im Anstellungsverhältnis zu tun.


Während der ganzen Zeit unserer Zusammenarbeit sind wir immer wieder besorgt um deine Sicherheit. Was tust du, um dich in deiner Lage zu schützen?


Alle meine sozialen Netzwerke sind blockiert, ich schreibe nicht, dass ich mich in Armenien befinde, aber ich denke, dass dieses Interview wohl kaum dem „Anti-Extremismus-Zentrum“ (eine Organisation in Russland, die auf falschen Anschuldigungen basierende Strafverfahren gegen politische Aktivist*innen lanciert, unter anderem gegen Antikriegs-Aktivist*innen) in die Hände fällt. Wenn ich bei Demonstrationen zugegen bin, versuche ich, mein Gesicht zu bedecken und mich nicht öffentlich zu äußern. Momentan arbeite ich als Babysitterin, und selbstverständlich muss ich meine sexuelle Orientierung verbergen, da ich nicht weiß, wie die Eltern reagieren würden.

Immerhin kenne ich eine Reihe von Menschenrechtsorganisationen, die ich aufsuchen könnte. Außerdem bin ich Teil einer feministischen Support-Gruppe, in der wir versuchen, etwas Wohlfühlatmosphäre herzustellen und einander in den Bedingungen der Emigration zu unterstützen.


Svetlana, wir danken dir für das Interview und dein Engagement und wünschen dir viel Kraft und Durchhaltevermögen.

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